Die Vorlesungszeit ist für mich seit gestern Abend offiziell vorbei - ich kann es kaum glauben. Im Moment bin ich schon etwas im Prüfungsstress, ich hab am Montag meine Geschichtsprüfung. Das ist ziemlich viel zum Auswendiglernen und so kann ich das frühsommerliche Wetter gerade nur bedingt genießen.
Río war unglaublich, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Das war die Reise, bei ich bis jetzt am meisten gelernt hab, über mich, über die Welt, über die Realität... dazu hat nicht zuletzt die Favela-Tour beigetragen, die wir gemacht haben. Das hört sich jetzt touristisch an, ist es auch, aber eine gute Sache. Favelas sind das, was in deutschen Medien so unpassend "Elends"viertel genannt wird, wir waren eine Gruppe "Gringos" (=Ausländer) und unser Guide kennt Rocinha, die größte Favela Río de Janeiros (200.000 Einwohner!) sehr gut und arbeitet dort bei Hilfsprojekten mit. Die Bewohner schätzen die Tours, weil sie wissen, dass ihnen mit den Einnahmen geholfen wird (fließt in die Projekte) und weil es zeigt, dass sich jemand für sie interessiert. Die Einheimischen neigen nämlich dazu, diese Realität zu ignorieren und finden Ausreden, warum sie das nicht sehen wollen. Wir hatten das lebendige Beispiel, drei Brasilianer aus Sao Paolo, in unserem Hostel, sie meinten, das würden sie oft genug im Fernsehen oder in der Zeitung sehen. Nur darf man nicht vergessen, dass in den Medien darüber berichtet wird, wenn dort Gewalt in "berichterstattungswürdigem" Ausmaß geschieht oder Menschen bei einer Überschwemmung ums Leben kommen. Über das alltägliche Leben der Menschen in Rocinha, die wie alle anderen ein menschenwürdiges Leben führen wollen und es nicht verdienen, als der Abschaum der Gesellschaft angesehen zu werden, wird nicht berichtet. Es ist aber wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wichtig für alle, nicht nur für die Brasilianer.
Was wir bei der Tour alles gesehen und gehört haben, kann man mit Worten kaum beschreiben. Der Anfang war sehr abenteuerlich, wir wurden mit Mopeds (jeder einzeln) auf den höchsten Punkt des Hügels befördert, ohne Helm über eine Straße mit Kurven, an Bussen und Autos vorbei, in einer Geschwindigkeit, die einen manchmal beten ließ. Ich war davor noch nie auf einem Moped gesessen! Oben angekommen, sind wir die "Hauptstraße" entlang runtergelaufen. Diese Straße ist ein Pfad, der so breit ist, dass zwei Personen aneinander vorbeilaufen können, mehr nicht. Einmal in der Straße, durften wir auch Fotos machen. Das war am Eingang verboten, weil die Eingänge von bewaffneten Mitgliedern der Drogenbande ADA kontrolliert werden und die mögen es nicht, auf Fotos zu erscheinen. Den Grund kann man sich denken. Wir haben tatsächlich einen mit einer riesigen Gun gesehen... Diese Drogenbande kontrolliert die Favela, steht in ständigem Clinch mit der Polizei, stellt ihre eigenen Gesetze auf, verkauft Drogen und kauft mit den Einnahmen Unmengen von Waffen. Die bekommt jeder zu spüren, der sich den Gesetzen widersetzt (z.B. eine Frau, die eine Beziehung zu einem Mitglied beendete, wurde ermordet). Die Gewalt und die ständige Angst um die Sicherheit sind das größte Problem der Menschen in der Favela und bis jetzt ist das nicht gelöst. Die schlechten Lebensbedingungen, z.B. improvisierte Stromversorgung, Müll ohne Ende, Häuser ohne Fenster und Türen... können die Menschen selbst verbessern, mit Unterstützung von außen. Sie arbeiten auch daran, z.B. haben sie jetzt WLan, einen Computersalon und Zugang zu Google. Zugang zu Informationen ist sehr wichtig, denn nur wer weiß, dass es auch anders geht, bekommt den Willen und die Möglichkeit, die eigenen Zustände zu ändern. Das Gute ist, 85% der Bevölkerung arbeitet oder studiert, viele arbeiten in den reichen Vierteln, die Rocinha umgeben. Was wir davor nicht wussten, die Favela hat die gleichen Läden und Dienstleistungen wie andere Viertel. Wir waren in einem Kunstatelier, in einer Bäckerei (haben natürlich was gekauft!) und sind an einem Optiker, Supermärkten, Schuh- und Klamottenläden usw. vorbeigelaufen.
Das war nur ein kurzer Einblick... es war eine sehr schockierende, aber wichtige Erfahrung und ich bin dankbar, dass ich das erleben durfte. Das nennt man wohl Lebensschule. Nach der Rückkehr haben wir den ganzen Tag kaum mehr was gemacht, wir mussten die ganzen Eindrücke erst mal verdauen.
Das war die dunkle Seite der Medaille Río de Janeiro, die helle gibt es natürlich auch. Es ist eine wunderschöne, tropische Stadt, die ihren Platz in meinen Top3 der schönsten Städte der Welt findet. Die Straßen von Ipanema sind gesäumt mit Palmen und tropischen Pflanzen, man fühlt sich wie in einem botanischen Garten. Die Bevölkerung unterscheidet sich von der des restlichen Cono Sur, man sieht viele Mulatten und Schwarze, der dunkle Teil der Geschichte Brasiliens mit dem Import von Sklaven ist omnipräsent. Viele "cariocas" treiben Sport, um ihre gute Figur zu halten. Saftbars findet man überall in der Stadt, ich hab alles mögliche probiert, einziges Kriterium war, dass ich die Frucht noch nicht kenne. Graviola, Acerola, Pitanga, Cupuacu, Acai... ein Schlaraffenland. Brasiliens Norden birgt obsttechnisch viele Schätze. Andere kulinarische Leckereien sind Empadas, Pasteles, feijoada (Bohnen)...
Zuckerhut und Christus-Statue sind ein Muss für jeden Río-Besucher, die Aussichten sind der Wahnsinn. Copacabana wird meiner Meinung nach überbewertet, sobald es dunkel wird, muss man dort äußerst vorsichtig sein. Der Strand von Ipanema ist genauso schön und sicherer. Santa Teresa ist ein Stadtteil auf einem Hügel, wie aus einer anderen Zeit. Dort atmet man die koloniale Vergangenheit. Die Caipirinhas sind so lecker und so stark wie ihr Ruf, als unbedarfter Europäer sollte man es besser nicht übertreiben ;) Tropenklima bedeutet nicht nur, dass die Temperatur nicht unter 20°C fällt, sondern auch, dass es im November doppelt so viel regnet wie im Juli. Was bedeutet, dass wir 4 Tage keinen Sonnenstrahl gesehen haben und ab und zu Nieselregen abbekommen haben. Das Schuhwerk der Cariocas sind FlipFlops, das fällt sofort auf. Kaum einer hat geschlossene Schuhe an, egal, wie das Wetter ist.
Reich und arm liegen dicht beieinander... in einer Disco in Ipanema zahlt man 70 Euro Eintritt (!) und am WE sieht man eine Menschenmenge davor. Plus Auto mit schlafendem Chauffeur. Ipanema ist eines der lebenswertesten Viertel Ríos und dementsprechend auch eines der teuersten zum Leben. Unser Hostel war auch dort, 3 Blocks vom Strand weg.
So, jetzt lasse ich den Eintrag nicht mehr allzusehr ausufern und widme mich wieder meinem Pensamiento-Skript. Beijos e abracos. PS: Ich will portugiesisch lernen für meinen nächsten Brasilien-Aufenthalt. Nach der ganzen Zeit im spanischsprachigen Südamerika war es ungewohnt, in einem Land zu sein, wo man die Sprache nicht spricht. Man wird zwar einigermaßen verstanden, wenn man Spanisch spricht, doch ist es ein Glücksspiel, ob man die Antwort versteht oder nicht. Mit einem der Brasilianer aus dem Hostel hat die spanisch-portugiesische Unterhaltung aber geklappt!